Machen wir eine Zeitreise, 20 Jahre zurück, ins Jahr 1994.

Italien. An die Macht kommt Silvio Berlusconi, ein vorbestrafter, korrupter Industrieller, mit seinem „Ein-Mann-Wahlverein“ Forza Italia. Seine Koalitionspartner: Neo-Faschisten der Alleanza Nazionale und Separatisten der Lega Nord.

Das Nachbarland Österreich macht sich Sorgen um die deutschsprachige Bevölkerung im Südtirol, einer Region, die vor wenigen Jahrzehnten noch zu Österreich gehörte, und eher zufällig an Italien kam. Und wo der Bevölkerungsanteil der „Deutschsprachigen“ immer noch über 50% liegt.

Wäre es legitim, wenn Österreich seine Militärtruppen ins Südtirol schicken würde – „um eine Destabilisierung der Region zu verhindern“? Selbst wenn es glaubwürdige Hinweise gäbe, daß die Alleanza Nationale einige zig Radikale nach Bozen per Zug geschickt hatte?

Wäre es in Ordnung, wenn österreichische Soldaten in unmarkieren Uniformen den Flughafen in Bozen stürmen und besetzen würden, sowie die österreichische Flagge auf dem Sitz der Regionalregierun hiessen?

Dürfte Österreich von der deutschprachigen Südtiroler Bevölkerung als „Österreicher in Südtirol“ sprechen?


Liegt es an dem Wassersprudler-Produzenten Sodastream und Scarlett Johansson, daß in den letzten Wochen und Tagen so laut und oft wie selten zuvor vom Boykott israelischer Waren die Rede ist, gar vom Boykott Israels? Doch wenn ich die Nachrichten der letzten Jahrzehnten vergleiche, ist in den letzten Monaten und Wochen im s.g. „Nahen Osten“ (also im Israel-Palästina-Konflikt) nichts neues oder nennenswertes passiert. Die israelische Regierung – selbst bei der Siedlungspolitik – ist kaum härter als die meisten Regierungen seit 1967, die Palästinenser sind ihrerseits nicht durch Attentate aufgefallen, und der s.g. „Friedensprozess“ geht schleppend bis gar nicht voran – also, leider, „business as usual“.

Unabhängig der Frage, warum die Boykott-Idee gerade so „en vogue“ ist, und erst recht ob es realwirtschaftlich und realpolitisch etwas bringen würde, ist die Frage, warum und in wie weit ein solcher Boykott berechtigt ist – egal ob es sich um den Staat Israel an sich, die dort produzierten Exportwaren, oder aber um die in „palästinensischen Gebieten“ (gemeint sind aber die s.g. „jüdischen“ Siedlungen im „Westjordanland“) produzierten Wassersprudler geht. Das sind Details, ich frage jedoch nach der Berechtigung eines Boykotts an sich.

Zunächst einmal sieht die Sache einfach aus: Wenn ein Mensch der Meinung ist, daß die Politik und Aktionen eines Staates oder auch eines Unternehmens falsch sind (oder: mehrheitlich falsch, denn ein 100%iges „falsch“ oder „böse“ gibt es nicht einmal im Fall Nordkorea) – hat er das Recht diese zu meiden, zu boykottieren, und auch zu solchem Verhalten in seiner Umgebung aufzurufen.

Gleichzeitig lauert immer die Falle der Subjektivität, des Wählerischen, der Diskriminierung, ob beim boykottierenden Einzelnen oder beim Staat: ob bei Deutschen im Falle Israels, bei Russland im Falle Litauens, oder bei Großbritannien und Zimbabwe. Die Falle ist der Verdacht, begründet oder nicht, daß ein – privater oder staatlicher – Boykott als wählerische Strafaktion gegen „gerade dieses Land“ gedacht ist, und nicht als objektives „Weltverbesserungs“-Werkzeug. Das heißt, man konzentriert sich und wählt ein bestimmtes Land – weil man es nicht mag, und nicht, weil gerade dort etwas zu verbessern wäre. Man konzentriert sich eher auf ein Israel und seine besetzten Gebiete, und läßt andere ähnliche Fälle links liegen: etwa Marokko und West-Sahara, China und Tibet, oder das von Indien, Pakistan und China besetzte Kaschmir. Diese wählerische Herangehensweise ist in meinen Augen ein Beweis nicht nur der Subjektivität, sondern gezielte Diskriminierung. Man hat zwar in der Sache an sich vielleicht recht (Kritik israelischer Politik) – doch die Einseitigkeit nimmt dem Boykott oder der Kritik viel an seiner Berechtigung. So wie wenn Polen Russlands Innenpolitik viel mehr als die Georgiens kritisiert, oder die Amerikaner Venezuela mehr als Honduras in Beschuss nehmen. Und umgekehrt: wenn Venezuela die USA mehr als China kritisiert, und die Russen an der EU mehr als am Kasachstan auszusetzen haben.

Sollte man es dann ganz lassen mit Kritik und Boykotten? Ist ein objektives, unparteiisches Handeln überhaupt möglich?

Ich denke, es ist möglich. Jeder Mensch hat das Recht einen Staat oder ein Unternehmen zu kritisieren oder zu boykottieren. Wenn jemand der Ansicht ist, es sei sinnvoll und geboten, den Staat Israel (oder ein israelisches Unternehmen) zu meiden, um den Menschen die dort leben zu helfen, und nicht um seinen Vorurteilen oder gar Haß eine Bühne zu bieten – klar, warum nicht? Dabei ist man aber umso glaubwürdiger, je mehr man sich informiert und objektiv handelt. Wenn man sich im Supermarkt das Kleindgedruckte der Verpackung vorliest, sollte man nicht bei der Information „Made in Israel“ (oder eher: „Made in Palestine, Designed in Israel“) überlegen, sondern auch bei allen anderen „Made in“-Ländern, die man mindestens genauso kritisch betrachtet als dieses Land. Wer Israel boykottieren will, und dabei China, Russland, Sri Lanka oder USA durchgehen läßt, ist für mich nicht nur nicht glaubwürdig, sondern eindeutig diskriminierend – oder zumindest dumm. Die Entscheidung, welche Länder nun „mindestens so boykottwürdig wie Land X“ sind, obliegt jedem von uns selber. Es ist unsere Sache, unsere Verantwortung und Handeln – beim unbewußten Kauf wie beim bewußten Nicht-Kauf. Der Einwand „Aber man kann doch nicht alle Länder der Welt kennen und bewerten!…“ gilt nicht: Man kann es schon, es sind knapp 200. Ja, eine solche Bewertung wäre immer unvollständig und subjektiv – doch lieber eine solche Subjektivität als eine des Nur-Dieses-Eine-Land-Boykotts. Wer will, kann auf im Netz vorhandene Ranglisten ausweichen, und sich so behelfen – auch wenn es keine eindeutige „Diese Länder sind gut und diese böse“-Rangliste gibt. Zu empfehlen wäre entweder der Pressefreiheit-Index (http://www.reporter-ohne-grenzen.de/ranglisten/rangliste-2013/) oder der Democracy-Index (http://www.economist.com/media/pdf/DEMOCRACY_INDEX_2007_v3.pdf). Ausgedruckt oder auf dem Smartphone passen die in jede Hosentasche und können beim täglichen Einkauf bei der Boykottwahl sehr behilflich sein. Denn kein Land – sei es Israel oder Pakistan – sollte einen besonderen Stellenwert haben: ob beim „zur Seite stehen“, oder bei einem Boykott.


Ein Partnerwechsel oder ein Seitensprung wird oft als Betrug oder gar Verrat gebrandmarkt. Dieser Ansicht kann ich mich anschließen – sofern im Rahmen einer solchen Aktion jemand getäuscht (nicht mit „enttäuscht“ verwechseln) wird oder Lüge im Spiel ist. Wenn es sich um zwischenmenschliche Beziehungen handelt, ist es bei den meisten Seitensprüngen und Partnerwechseln genau das der Fall – jemand wird getäuscht, angelogen, betrogen, verraten.

Es gibt aber auch Fälle von „abgesprochenen“ und dem bisherigen Partner offen angekündigten „Wechseln“ und „Affären“, die dennoch manchmal hoch emotional behandelt und nicht selten ebenfalls mit den Prädikat „Verrat!“ oder „Der Feind in meinem Bett!“ ausgezeichnet werden. Es geht dabei um journalistische oder redaktionelle Jobwechsel oder Gastauftritte. Dabei ist die Emotionalisierung der Reaktionen direkt proportional mit der Frage nach den „ideologischen Lagern“ verbunden. Das heißt, ob nun ein „linker“ Autor zur „rechten Zeitung“ wechselt, oder aber ein „rechter“ Redakteur eine leitende Positionen in einem „linken“ Medium erhält.

(Ich verwende hier absichtlich nicht nur den pauschalen Begriff „linke(r)“, sondern auch „rechte(r)“ – wohl wissend nicht nur um die gewisse Oberflächlichkeit beider Begriffe, sondern auch, daß – meiner Meinung nach zu Unrecht – in Deutschland die Beschreibung „rechte(r)“ sehr pejorativ besetzt ist, so als wäre man automatisch „rechts-radikal“ oder „rechts-extrem“, während man bei dem „links“-Begriff weniger Angst vor der Verwechslung oder Verwandtschaft mit „-radikal“ oder „-extrem“ hätte.)

Nehmen wir Nikolaus Blome. Als bekannt wurde, daß dieser Redakteur von „Bild“ zum „Spiegel“ wechseln soll – Sturm der Empörung, ob Online (Blogs, FB, Twitter) oder unter den „Spiegel“-Redakteuren. Ein „rechter“ „Bild“-Mann (vormals bei „Der Welt“) schleicht sich wie ein Spion samt ganzer Dolchstoß-Pläne in das Traum-Flagschiff der „linken“ Medienlandschaft.

Nicht weniger emotional wurden schon früher die regelmäßigen Kolumnen-„Gastauftritte“ in eben dieser „Bild“ einiger „linker“ Ikonen oder Stars kritisiert: sei es Oskar Lafontaine oder Alice Schwarzer. (Galt es noch als „Seitensprung“ oder schon als „Affäre“?) Wie können die nur mit dem rechtspopulistischen Feind paktieren? Machen die es wegen der Breitenwirkung oder nur wegen des Geldes?

Andererseits war es Anfang Dezember 2013 auffällig ruhig, als der ehemalige „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust zu der konservativen (also „rechten“) „Welt“ wechselte. Und das nicht als freier Mitarbeiter oder Kolumnist, sondern als Herausgeber. Sind denn die „rechten“ Leser und Medienkonservativen so schlecht im Organisieren von öffentlichkeitslautem Widerstand, oder haben sie die kleingedruckte Meldung übersehen?

Noch ruhiger war es, als Michael Naumann „Die Zeit“ linksliberal liegen ließ, um als Chefredakteur das rechts-liberal-konservative „Cicero“ zu führen.

Etwas mehr öffentlicher Wirkung hatte – wie oft – Kai Diekmann. Der „rechte“ „Bild“-Chef durfte nicht nur die 25-Jahre-Jubiläumsausgabe der „taz“ gestalten, sondern trat sogar 2009 in deren Genossenschaft ein – was beide Medien zum eigenen Vorteil in Szene setzten.

Ich finde all diese und ähnliche Seitensprünge und Überläufe wunderbar. Erfrischend. Inspirierend. Denn was bringt mir ein „linkes“ oder „rechtes“ Medium, wenn ich darin keine oder zu wenig andere, kritische, der bisherigen ideologischen Leitlinie (denn die meisten Medien, vor allem Presse, beinhalten viel Ideologie und sind eindeutig parteiisch) ferne Geisteshaltung vorfinde? Dann ist die Lektüre einer Zeitung oder eines Magazins nicht spannender als das Diskursniveau eines lokalen Gewerkschaftsverbandes oder eines Burschenschafter-Ringes. Ich wünsche mir mehr Blome im „Spiegel“, ich wünsche mir mehr Aust in „Der Welt“, von mir aus Arnulf Baring & Peter Sloderdijk im „Neuen Deutschland“ und Sahra Wagenknecht & Jutta Ditfurth in den Springer-Medien!

Einzige Bedingung: dass solche Affären und Seitensprünge nicht die Qualität und ideologische Aufrichtigkeit der Texte beeinträchtigen. Egal ob sich ein Autor als „links“ oder „rechts“ versteht, möge er/sie durch den Wechsel nicht „abflachen“ oder gar in undefinierbaren, gesichtslosen, merkelinischen „Mittepositionen“ versinken. Denn damit zieht er nicht nur das Medium, sondern auch den Leser mit in die Oberflächlichkeit.

Bleibt nur noch einer zu erwähnen (Nein, nicht Jakob Augstein). Frank Schirrmacher. Der bleibt ja bei seinem Medium, der „FAZ“. Und dennoch scheint auch dieser in so mancher Position, ob Energie, Umweltschutz oder Kapitalismus, „gewechselt“ zu haben. So mancher bisheriger „Fan“ ist entsetzt („Was ist mit dem jetzt los?“), so mancher bisheriger „Feind“ nimmt ihm die „Wandlung“ in manchen Themen nicht ab („Tut nur so!“). Ich kann es nicht beurteilen, dazu kenne ich den Herrn nicht persönlich. Zu beurteilen sind ohnehin nur seine Texte – auf Argumentation, Stichhaltigkeit, geistigen Elan. Dass jemand seine Standpunkte ändert, sofern es argumentativ nachvollziehbar ist, ist eher lobenswert, mindestens aber intellektuell spannend, es zeigt eine geistige Entwicklung. Selbst wenn sie falsch sein mag und man irgendwann sich wieder „rückentwickeln“ sollte – es zeugt von Bewegung und nicht vom Beharren auf ein und demselben Standpunkt. Und erst recht wenn es sich – wie bei den Wechsel-Beispielen oben – eher um einen Standort-Wechsel handelt. Eine Zeitung oder ein Magazin sind schließlich keine geschlossenen Sekten oder exclusiven Vereine – sondern eben nur und vor allem Medien.